Neue Leitlinien der Europäischen Kommission zur kartellrechtlichen Behandlung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen im Agrarsektor | Fieldfisher
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Neue Leitlinien der Europäischen Kommission zur kartellrechtlichen Behandlung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen im Agrarsektor

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Am 7. Dezember 2023 hat die Europäische Kommission (Kommission) die "Leitlinien der Kommission zur Ausnahme von Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union in Bezug auf Nachhaltigkeitsvereinbarungen für landwirtschaftliche Erzeuger gemäß Artikel 210a der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013" (Leitlinien) veröffentlicht, die am 8. Dezember 2023 in Kraft traten. 

Gegenständlich bewegen sich Art. 210a der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse (GMO) sowie die Leitlinien im Bereich der kartellrechtskonformen Ausgestaltung von Vereinbarungen zur Erfüllung höherer Nachhaltigkeitsstandards in der Landwirtschaft. Die Leitlinien bieten erstmals wichtige Anhaltspunkte für die Frage, unter welchen Voraussetzungen landwirtschaftliche Erzeuger mit Wettbewerbern oder anderen Marktakteuren auf vor- oder nachgelagerten Marktstufen (kartellrechtskonform) kooperieren können, um höhere Nachhaltigkeitsstandards zu erfüllen.

1. Hintergrund

Die kartellrechtlichen Regelungen sind auf den landwirtschaftlichen Sektor grundsätzlich voll anwendbar. Gleichwohl bestehen im Agrarrecht spezifische Bereichsausnahmen vom Kartellverbot, die auf europäischer Ebene in der GMO (vgl. Art. 152 ff. GMO sowie Art. 209 f. GMO) und auf nationaler Ebene in § 28 GWB sowie im Agrarorganisationen-und-Lieferketten-Gesetz (AgrarOLkG) geregelt sind. Danach ist es – vereinfacht gesagt – Vereinigungen von landwirtschaftlichen Erzeugern bzw. anerkannten Erzeugerorganisationen oder aber Vereinigungen von anerkannten Erzeugerorganisationen bereits gestattet, diverse Arbeitsschritte der Erzeugung, Lagerung, Verpackung etc. zu bündeln und etwaige Erzeugnisse auch gemeinsam zu vermarkten (bis hin zur Festsetzung gemeinsamer Abgabepreise; vgl. Art. 152 Abs. 1a GMO), ohne unter das Kartellverbot zu fallen. Rechtspolitisch sollen diese Bereichsausnahmen die besondere Natur der landwirtschaftlichen Produktionsbedingungen berücksichtigen sowie die verminderte Anpassungsfähigkeit der landwirtschaftlichen Erzeuger an das Marktgeschehen ausgleichen.

Eine weitere Bereichsausnahme schafft nunmehr Art. 210a GMO, der im Jahr 2021 im Zusammenhang mit der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) für die Jahre 2023 bis 2027 durch das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union neu eingeführt wurde. Mittels Art. 210a GMO sollen nunmehr Vereinbarungen vom Kartellverbot ausgenommen werden, die einen gesetzlich vorgeschriebenen Nachhaltigkeitsstandard durch das Unionsrecht oder nationales Rech übererfüllen und nur solche Wettbewerbsbeschränkungen beinhalten, die für das Erreichen des Nachhaltigkeitsstandards unerlässlich sind. Im Fokus steht somit nicht mehr die Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte als solche, sondern die Erzeugung unter Neuschaffung oder Verbesserung bereits bestehender Nachhaltigkeitsstandards. Im Gegensatz zu Art. 152 ff. bzw. Art. 209 f. GMO beschränkt sich die Bereichsausnahme nicht auf die reine Ebene der Erzeuger, sondern schließt auch vor- und nachgelagerte Marktstufen mit ein.

2. Personeller und sachlicher Anwendungsbereich des Art. 210a GMO

Art. 210a GMO findet in personeller Hinsicht Anwendung, wenn an der in Rede stehenden Vereinbarung mindestens ein landwirtschaftlicher Erzeuger beteiligt ist:

  • Auf horizontaler Ebene erfasst Art. 210a GMO Vereinbarungen zwischen mehreren Erzeugern;

  • Auf vertikaler Ebene erfasst Art. 210a GMO Vereinbarungen zwischen Erzeugern und anderen Wirtschaftsakteuren auf verschiedenen Stufen der Agrar- und Lebensmittelversorgungskette (z.B. Saatgutlieferung, Verarbeitung, Handel, Vertrieb).

Dabei können auch Vereinbarungen innerhalb eines Branchenverbands, in dem Marktakteure verschiedener Stufen der Agrar- und Lebensmittelbranche angehören, von Art. 210a GMO erfasst sein, wenn die wirksame Beteiligung der Erzeuger an der Vereinbarung sichergestellt ist.

In sachlicher Hinsicht muss sich die Vereinbarung auf die Erzeugung oder den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnisse beziehen, die in Anhang I des AEUV aufgelistet sind (z.B. lebende Tiere, Fleisch, Milch, Gemüse, Obst etc.) und im Kern darauf abzielen, bereits bestehende Nachhaltigkeitsstandards zu verbessern und ggf. neu zu schaffen (dazu sogleich). Beinhaltet die Vereinbarung auch Güter, die nicht in Anhang I des AUEV genannt sind, ist der entsprechende Teil der Vereinbarung hingegen nicht von der Ausnahme des Art. 210a GMO gedeckt.

Während Vereinbarungen zwischen Erzeugern nach den Voraussetzungen der Art. 152 ff. und Art. 209 f. GMO bereits vom Kartellverbot freigestellt sind, schafft Art. 210a GMO nunmehr – zumindest wenn es um die Verbesserung bestehender/Schaffung neuer Nachhaltigkeitsstandards geht – einen Rahmen für Vereinbarungen landwirtschaftlicher Akteure unterschiedlicher Marktstufen.

3. Verfolgung von Nachhaltigkeitszielen durch Vereinbarung über die Anwendung von Nachhaltigkeitsstandards

Um von Art. 210a GMO erfasst zu sein, muss die jeweilige Vereinbarung die Anwendung eines  Nachhaltigkeitsstandards anstreben, der zu einem oder mehreren der folgenden Nachhaltigkeitsziele beiträgt. Nach Art. 210a Abs. 3 lit. a - c GMO handelt es sich um die folgenden Ziele:

  1. Umweltziele, einschließlich Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel, nachhaltige Nutzung und Schutz von Landschaften, Wasser und Böden, den Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, einschließlich der Verringerung von Lebensmittelverschwendung, Vermeidung und Verminderung von Umweltverschmutzung sowie den Schutz und die Wiederherstellung der biologischen Vielfalt und der Ökosysteme;

  2. Die Erzeugung landwirtschaftlicher Erzeugnisse in einer Weise, durch die der Einsatz von Pestiziden verringert und die daraus entstehenden Risiken beherrscht oder die Gefahr einer Resistenz gegen antimikrobielle Wirkstoffe in der landwirtschaftlichen Erzeugung verringert werden; und

  3. Tiergesundheit und Tierwohl.

Die Leitlinien stellen klar, dass die Aufzählung in Art. 210a Abs. 3 lit. a GMO (Umweltschutz) nicht abschließend ist und auch weitere Arten und Varianten der Ziele für die Freistellung nach Art. 210a Abs. 1 GMO denkbar sind (z.B. die Verringerung von Luft- oder Plastikverschmutzung, die Einsparung oder Verbesserung der Wasserqualität etc.). Dagegen sind die Ziele in Art. 210a Abs. 3 lit. b und c GMO erschöpfend aufgezählt. Umfasst die Vereinbarung mehrere Nachhaltigkeitsziele, von denen einige jedoch nicht unter Abs. 3 lit. a-c fallen, sind diese von der Freistellung ausgenommen. Nachhaltigkeitsvereinbarungen können naturgemäß auch weitere wirtschaftliche (z.B. eine angemessene Vergütung der Erzeuger) oder soziale (z.B. Verbesserung der Arbeitsbedingungen) Zielsetzungen verfolgen. Insofern stellen die Leitlinien klar, dass auch diese Zielsetzungen nicht von der Freistellung des Art. 210a GMO umfasst sind.  

Wichtig ist für Art. 210a GMO, dass die Vereinbarung die Anwendung/Erfüllung des Nachhaltigkeitsstandards verbindlich und unabdingbar festlegt, der zu den Nachhaltigkeitszielen beiträgt. Der Standard selbst muss jedoch nicht von den Parteien entwickelt werden, es kann vielmehr auf bestehende nationale oder europäische Standards zurückgegriffen werden, sofern die Vereinbarung darauf abzielt, diesen Standard zu "übertreffen". Diese Nachhaltigkeitsstandards müssen – sofern sie quantifizierbar sind – zu konkreten und messbaren Ergebnissen führen (z.B. die Vereinbarung, den Einsatz von Pestiziden um 10% zu verringern), andernfalls zumindest zu sichtbaren und beschreibbaren Ergebnissen (z.B. Beschreibung konkreter Pflanzensorten die angepflanzt werden, um die Biodiversität zu stärken). Wenn zu einem späteren Zeitpunkt ein gleichwertiger oder ehrgeizigerer Nachhaltigkeitsstandard auf nationaler oder Unionsebene eingeführt wird, unterliegt die Vereinbarung hingegen nicht mehr Art. 210a GMO.

4. Unerlässlichkeit als Einschränkung des weiten Anwendungsbereichs

Als Korrektiv des weiten Anwendungsbereichs von Art. 210a GMO dient das Kriterium der sog. Unerlässlichkeit (vgl. Art. 210a Abs. 1 a.E. GMO). Die Vereinbarung muss daher unerlässlich sein, um den Nachhaltigkeitsstandard zu erfüllen. Dabei greifen die Leitlinien explizit die Rechtsprechung zur Prüfung der Unerlässlichkeit nach Art. 101 Abs. 3 AEUV auf, die als Ausgangspunkt für die Prüfung der Freistellung dient. Ob eine Vereinbarung unerlässlich ist, wird anhand einer zweistufigen Prüfung ermittelt

4.1   1. Schritt: Unerlässlichkeit der Nachhaltigkeitsvereinbarung

Zunächst muss in einem ersten Schritt die Nachhaltigkeitsvereinbarung selbst nach vernünftigem Ermessen unerlässlich für das Erreichen des angestrebten Nachhaltigkeitsstandards sein. Dabei sind zum einen die einzelnen Bestimmungen der Vereinbarung und zum anderen die Nachhaltigkeitsvereinbarung als solche in einer Gesamtschau – durch die Beteiligten der Vereinbarung (sog. self-assessment) – nach den Maßstäben der Leitlinien zu prüfen.

Im Kern dreht sich die Prüfung um die Frage, ob die Wettbewerbsbeschränkung unter den tatsächlichen Rahmenbedingungen bei der Anwendung der Nachhaltigkeitsvereinbarung unerlässlich ist. Dies ist dann nicht gegeben, wenn die Beteiligten das Ziel durch individuelles Handeln erreichen könnten. Sie müssen daher darlegen können, warum sie zusammenarbeiten und was sie am alleinigen Erreichen des Standards hindert. Als Daumenregel gilt:

"Je leichter die von den Wirtschaftsakteuren mit dem Nachhaltigkeitsstandard angestrebten Verbesserungen gegenüber dem, was bereits durch das Unionsrecht oder nationales Recht vorgeschrieben ist, zu erreichen sind, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass es einer Zusammenarbeit zwischen den Wirtschaftsakteuren bedarf oder dass die jeweiligen Beschränkungen ihrer Art und ihrer Schwere nach gravierender sein müssten."

Die Leitlinien verwenden allein auf diese Prüfung ca. 20 Randnummern und geben dabei detaillierte Hilfestellung zur Frage der Unerlässlichkeit der Nachhaltigkeitsvereinbarung als solche.

4.2   2. Schritt: Unerlässlichkeit der Wettbewerbsbeschränkung

In einem zweiten Schritt sind die durch die Vereinbarung entstehenden Wettbewerbsbeschränkungen zu prüfen und zu fragen, ob diese unerlässlich für das Erreichen des Nachhaltigkeitsstandards ist. Dabei müssen die verschiedenen Handlungsoptionen abgewogen und die Option gewählt werden, die den Wettbewerb insoweit am wenigsten beschränkt. Dabei sind v.a. die Art, Schwere und Dauer der Wettbewerbsbeschränkung in den Blick zu nehmen.

Beispielsweise könnte es für Geflügelerzeuger unerlässlich sein, eine Bestimmung über die Zahlung eines Preisaufschlags zu treffen, der den konkreten Mehrpreis von Bio-Futter im Vergleich zu herkömmlichem Futter ausgleicht. Eine Vereinbarung zur Festsetzung eines Verkaufspreises für Verbraucher hingegen könnte nur dann unerlässlich sein, wenn das Einhalten des Standards zu Zusatzkosten im gesamten Produktionsprozess durch zusätzliche Faktoren wie mehr Platz in Käfigen, längere Auslaufzeiten oder eine bessere tierärztliche Versorgung führt. Da die Festsetzung von Verkaufspreise naturgemäß eine besonders schwerwiegende Wettbewerbsbeschränkung darstellt, dürfte eine solche Vereinbarung nur als letztes Mittel in Betracht kommen und muss im Einzelfall genau geprüft werden. Anders als bei Art. 101 Abs. 3 AEUV ist bei einer Prüfung nach Art. 210a GMO hingegen keine Analyse zur Marktabdeckung der Beteiligten erforderlich, um die Frage der Unerlässlichkeit bewerten zu können.

Da das Kartellverbot im Kern die Beschränkung des Wettbewerbs verhindern soll, kommt der Frage der Bewertung eben dieser im Rahmen einer Nachhaltigkeitsvereinbarung am Maßstab des Art. 210a GMO die größte Bedeutung zu. Folglich widmen sich die Leitlinien auch bei diesem Punkt in ca. 20 Randnummern der Bewertung bzw. liefern entsprechende Anhaltspunkte für die Bewertung durch die Beteiligten einer solchen Vereinbarung.

4.3   Möglichkeit der Stellungnahme durch die Kommission

Im Grundsatz gilt, dass eine Freistellung nach Art. 210a GMO keiner behördlichen Entscheidung bedarf; erfüllt die Nachhaltigkeitsvereinbarung die Anforderungen des Art. 210a GMO, ist diese automatisch vom Kartellverbot ausgenommen.

Da die Bewertung durch die Beteiligten – trotz entsprechender Leitlinien – weiterhin mit Unsicherheiten behaftet sein kann, bietet Art. 210a Abs. 6 GMO die Möglichkeit, dass die Beteiligten einer Nachhaltigkeitsvereinbarung einen Antrag bei der Kommission betreffend die Vereinbarkeit dieser Vereinbarung mit Art. 210a GMO stellen können. Nach Eingang des Antrags muss die Kommission innerhalb von vier Monaten eine Stellungnahme über die Vereinbarkeit der Nachhaltigkeitsvereinbarung mit Art. 210a GMO abgeben.

Eine solche Stellungnahme ist zwar nicht verbindlich. Sie dürfte den Beteiligten aber insofern eine hinreichende Bewertungsgrundlage liefern, um das angestrebte Vorhaben kartellrechtskonform umzusetzen oder ggf. Teile der Vereinbarung nachzuschärfen bzw. von bestimmten Teilen abzusehen.

5. Behördliches Vorgehen durch ex-post-Intervention möglich

Art. 210a Abs. 7 GMO enthält einen Schutzmechanismus dergestalt, dass nationale Wettbewerbsbehörden (z.B. Bundeskartellamt oder Kommission) ermächtigt sind, die Änderung oder Einstellung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen zu fordern. Hierfür muss die in Rede stehende Nachhaltigkeitsvereinbarung die Verwirklichung der fünf Ziele der GAP aus Art. 39 Abs. 1 AEUV gefährdet oder den Wettbewerb insgesamt ausschließt. Die Leitlinien gehen aber selbst davon aus, dass die Schwelle für die Annahme einer Gefährdung agrarpolitischer Ziele jedoch hoch sein dürfte, da andernfalls der Sinn und Zweck des Art. 210a GMO leerlaufen würde.

6. Einordnung und Ausblick

Die weitere europarechtliche Ausrichtung im Rahmen des "Green Deals" zu mehr Nachhaltigkeit setzt sich auch in der Landwirtschaft fort. Einen ersten Schritt hatte die Kommission bereits mit der Überarbeitung der Horizontalleitlinien unternommen, die erstmals ein Kapitel zu Nachhaltigkeitsvereinbarungen zwischen Wettbewerbern (ohne Beschränkung der Geschäftsbereiche bzw. Industriesektoren) beinhalten. Art. 210a GMO führt diesen Weg – begrenzt auf den Bereich der Landwirtschaft – nicht nur fort, sondern erweitert die Möglichkeit kartellrechtskonformer Nachhaltigkeitsvereinbarungen zwischen verschiedenen Marktstufen. Die nunmehr erschienene Leitlinien bieten den Beteiligten solcher Vereinbarungen hilfreiche Anhaltspunkte zu der Frage, ob eine Nachhaltigkeitsvereinbarung unter Beteiligung landwirtschaftlicher Erzeuger ggf. vom Kartellverbot freigestellt ist. Da der Anwendungsbereich die vollständige Kette von der Erzeugung bis zum Lebensmitteleinzelhandel einbezieht, schafft Art. 210a GMO faktisch erheblichen Spielraum für die benötigte Transformation hin zu einer nachhaltigen und klimaneutralen Landwirtschaft unter Einbeziehung aller Marktakteure.  

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Kartellrecht