Muss Deutschland seine Gasspeicher mit den europäischen Nachbarn teilen? | Fieldfisher
Skip to main content
Insight

Muss Deutschland seine Gasspeicher mit den europäischen Nachbarn teilen?

Locations

Germany

Groß war Anfang des Jahres die Bewunderung für den Nachbarstaat Polen, als Russland abrupt den Gashahn zudrehte und das Land nahezu ungerührt weiterlebte. Mit mehreren vorausschauenden Infrastrukturprojekten, insbesondere einer im Bau befindlichen Gaspipeline durch die Ostsee, wog man sich in Sicherheit, dachte sogar die seit August freiwilligen europäischen Einsparungsziele von 15 % einhalten zu können. Doch heute stellt sich die Lage ganz anders dar.  Die Gasspeicher werden zeitnah leergehen und der mehrheitlich staatliche Energiekonzern PGNiG schafft es nicht, das dringend benötigte Gas aus Skandinavien zu beschaffen. Ein kalter Winter für das Land kündigt sich an. Hilfe von außen scheint bitter nötig. Doch was tun?

Es entspricht wohl kaum dem Wertebild der Union einen Mitgliedstaat wie Polen in der Kälte stehen zu lassen. Doch eine freiwillige Unterstützung durch Gaslieferungen anderer Mitgliedstaaten steht in der aktuellen Zeit des Bangens um Energie ebenfalls in Frage. Doch gibt es – und hier ist außerhalb von vertraglichen Lieferverpflichtungen gemeint – eine europarechtliche Pflicht der Mitgliedstaaten, Energie zu teilen? Konkret also: Muss Deutschland seine Gasspeicher im Krisenfall mit den europäischen Nachbarn teilen, selbst, wenn das für Deutschland eine Verschärfung der Krise im eigenen Land bedeutet?

Das Europarecht setzt auf den ersten Blick einen klaren Rahmen, der Deutschland tatsächlich verpflichten könnte, Gas aus seinen Speichern an die Nachbarn zu leiten – aber nur in Ausnahmefällen. Um einen kalten Winter möglichst für alle Gemeinschaftsmitglieder zu verhindern, verabschiedete der Europäische Rat zuletzt eine Verordnung über koordinierte Maßnahmen zur Senkung der Gasnachfrage. In Bezugnahme auf eine Verordnung aus dem Jahre 2017 gestattet es diese, im Sinne der Solidarität unter anderem jedem Mitgliedstaat bei Gasknappheit grundsätzlich Unterstützung von benachbarten Mitgliedstaaten zu fordern (vgl. Art. 13 Abs. 3 VO (EU) 2017/1938). Da solche Solidaritätsmaßnahmen jedoch die ultima ratio bleiben sollen, sind die Anforderungen an die Zulässigkeit verhältnismäßig hoch angesetzt. Zunächst muss der ersuchende Mitgliedstaat alle nationalen marktbasierten und hoheitlichen Maßnahmen des eigenen Gasnotfallplans ausgeschöpft haben und dennoch keine Versorgungssicherheit für seine Gasabnehmer gewährleisten können.

Erst dann darf sich der Mitgliedstaat mit einem Hilfeersuchen an die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten wenden. Dabei muss er sich auch zu einer angemessenen und unverzüglichen Entschädigung für die geforderte Hilfe des anderen Mitgliedstaates verpflichten.

Bleibt man am Wortlaut dieser Verordnung stehen, ist eine Beistandsverpflichtung Deutschlands für seine europäischen Nachbarn von recht hohen Hürden abhängig und das Verfahren zu seinem Eintritt komplex. Doch wurde die Verordnung zu einem Zeitpunkt verabschiedet, als Russland jedenfalls noch teilweise Gas lieferte und die Energiekrise mit einem kalten Winter noch nicht so präsent war wie sie es heute in den europäischen Medien und Köpfen der Bürgerinnen und Bürger ist.

Kommt es im Ernstfall überhaupt auf diese Verordnung an? Zweifel sind mehr als angebracht. Wenn die Menschen auf die Straßen gehen und die Regierungen anderer Mitgliedstaaten unter Druck stehen, wird ein anderer Aspekt des europäischen Rechts schnell in den Mittelpunkt geraten: Der im Europarecht verankerte Solidaritätsgedanke. Das Prinzip einer wechselseitigen Solidarität prägt das Europäische Recht – auch wenn die Corona-Krise mit nationalen Ausfuhrbeschränkungen für medizinische Güter zeitweise diese Solidarität mehr als vermissen ließ. So bestimmt beispielsweise Art. 4 Abs. 3 des Vertrages über die Europäische Union, dass sich die Mitgliedstaaten bei der Erfüllung ihrer Aufgaben aus dem Vertrag wechselseitig unterstützen. Zwar mag die oben angesprochene Verordnung nun einen Vorrang beanspruchen, da sie die recht allgemeine Vorschrift des Vertrages konkretisiert. Doch im Krisenfall werden sich besonders betroffene Staaten sicher auch auf diese allgemeinen Vorschriften der EU berufen – fraglich, ob dann die strengere Verordnung wirklich halten kann.  Auch wenn die Verordnung explizit ausführt, dass Solidaritätsmaßnahmen das letzte Mittel darstellen sollen, ist die Dimension der Krise so hoch, dass die allgemeinen Solidaritätsregeln wiederaufleben könnten.

Als Wertegemeinschaft ist die Union zudem durch das Prinzip des Gebens und Nehmens geprägt. Deutschland als größtes und wirtschaftlich stärkstes Land steht hier in einer Vorreiterrolle. Entzieht sich Deutschland dem Solidaritätsprinzip, werden andere Mitgliedstaaten folgen und den Bestand der EU gefährden. Darauf wird Russland setzen. Daher sind deutliche Zweifel angebracht, dass es auf die hohen Hürden der Verordnung vor einer Teilung von Energie wirklich ankommt – im Krisenfall wird Deutschland Solidarität zeigen müssen. Deswegen gibt es auch erste bilaterale Vereinbarungen auf EU-Ebene. Mit gutem Beispiel gehen hier bereits die deutsche und französische Regierung voran, die zuletzt über einen Austausch an Gas und Strom übereinkamen.

Die Deutschen sollten damit einkalkulieren, dass sie ihre Gasreserven im Winter teilen müssen und sich die Energiekrise im eigenen Land verschärft. Vielleicht vermag auch ein Perspektivenwechsel helfen, nicht ausschließlich das Negative in Solidaritätsmaßnahmen zu sehen. Denn es ist nur eine Frage der Zeit bis unsere nächste Notlage vor der Haustür steht und wir auf Hilfe anderer angewiesen sind. Möglicherweise sogar schon diesen Winter.

 

Über den Autor

Dennis Hillemann ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner im Verwaltungsrecht (vor allem Verwaltungsprozessrecht) im Hamburger Büro von Fieldfisher. Er berät Unternehmen und den öffentlichen Sektor, vor allem in komplexen Rechtsfragen des Öffentlichen Rechts und bei Streitigkeiten.
 
 

Melden Sie sich für unseren Newsletter an

Klicken Sie hier, um den Newsletter zu abonnieren oder Ihre E-Mail-Einstellungen zu verwalten.

ABONNIEREN