Bundesarbeitsgericht: Arbeitgeber müssen Arbeitszeit erfassen! | Fieldfisher
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Insight

Bundesarbeitsgericht: Arbeitgeber müssen Arbeitszeit erfassen!

Marcus Kamp
14.09.2022

Locations

Germany

Am 13.09.2022 gab es überraschende Post aus Erfurt: Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat entschieden, dass bereits jetzt eine Pflicht für Arbeitgeber besteht, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann (Az. 1 ABR 22/21).


Die Entscheidung

In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt verlangte ein Betriebsrat vom Arbeitgeber die Einführung eines elektronischen Systems für die Erfassung von Arbeitszeiten der Arbeitnehmer. Der Betriebsrat begründete dies mit einem angeblich bestehenden Initiativrecht nach § 87 BetrVG.  Das Bundesarbeitsgericht hat ein entsprechendes Initiativrecht des Betriebsrats im Ergebnis zwar verneint und die Anträge des Betriebsrats zurückgewiesen. Die Begründung hatte es aber in sich: Nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG hat ein Betriebsrat in sozialen Angelegenheiten nur mitzubestimmen, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht. Bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG ist der Arbeitgeber aber bereits gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Dies schließt ein durchsetzbares Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung aus.

Bewertung der Entscheidung

Der Grundtenor der Entscheidung des BAG ist nicht neu. Der EuGH hatte bereits 2019 entschieden, dass Arbeitgeber europaweit verpflichtet sind, die gesamte Arbeitszeit von Arbeitnehmern zu erfassen. Es müsse ein System eingerichtet werden, mit dem objektiv und zuverlässig die vom Arbeitnehmer geleistete tägliche und wöchentliche Arbeitszeit festgestellt werden könne. Die konkrete Ausgestaltung eines solchen Systems und die nationalgesetzliche Umsetzung des Urteils sollten die Mitgliedsstaaten individuell regeln (Urteil vom 14.05.2019, Az. C-55/18).

Neu ist mit der Entscheidung des BAG nun aber, dass das BAG davon ausgeht, eine solche Pflicht würde bereits jetzt nach der sehr allgemeinen Vorschrift des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG bestehen, ohne dass der Gesetzgeber eine ausdrückliche Pflicht normiert hat. Der Gesetzgeber hatte sich seit der EuGH-Entscheidung (bewusst?) Zeit gelassen mit einer Umsetzung der Vorgaben des EuGH und wird nunmehr vom BAG in Zugzwang gesetzt.

Eine eindeutige gesetzliche Regelung ist dringend geboten, denn die Entscheidung des BAG wirft mehr Fragen auf, als dass sie Klarheit schafft. Auf den ersten Blick wird die in den letzten Jahren mehr und mehr praktizierte Vertrauensarbeitzeit kaum mehr möglich sein. Das üblicherweise sehr flexible Arbeiten im Home Office wird schwieriger. Es bleibt hier also abzuwarten, was sich der Gesetzgeber überlegen wird, um diese bereits bewährten Arbeits(zeit)modelle nicht zu gefährden.

Handlungsempfehlung

Sofern Arbeitgeber bereits ein Zeiterfassungssystem eingeführt haben, besteht kein Handlungsbedarf. Alle anderen Arbeitgeber sollten aber dringend handeln und zumindest erstmal ein zur Not auch rudimentäres System zur Arbeitszeiterfassung einführen. Ein solches System könnte auch aus der altmodischen Erfassung mit Stift und Zettel bestehen.  Denn bestimmte Systeme zur Zeiterfassung sind (bisher) nicht gesetzlich vorgeschrieben und können auch nicht von den Arbeitsschutzbehörden angeordnet werden.
Ein System zur Zeiterfassung ist insbesondere deshalb erforderlich, um Arbeitnehmern nicht die Möglichkeit zu geben, rechtmäßig von der Arbeit fernbleiben zu können. Denn bei Nichtumsetzung von verpflichtenden Maßnahmen zum Arbeitsschutz steht Arbeitnehmern ein Leistungsverweigerungsrecht zu, selbstverständlich unter Wahrung des vollen Lohnanspruchs (vgl. §§ 618, 273 BGB). Zudem könnten die Arbeitsschutzbehörden die Einführung eines Zeiterfassungssystems anordnen, Verstöße gegen solche Anordnungen wären dann bußgeldbewährt (im Einzelfall bis zu EUR 30.000). Ob und in welchem Umfang die Arbeitsschutzbehörden auf die Entscheidung des BAG reagieren und nun großflächig entsprechende Anordnungen erlassen, ist schwer zu prognostizieren.